Martin Luther bezeichnet den Papst als Antichristen und berichtet Georg Spalatin von Unruhen der Studenten in Wittenberg

Signatur:
LASA, Z 8, Nr. 75
Seitenangabe:
1r-v
Datierung:
24. Februar 1520
Orte:
Wittenberg
Wittenberg
Wichtige Personen:
Luther, Martin (* 1483 † 1546)
Spalatin, Georg (* 1484-01-17 † 1545-01-16)
Bearbeiter:
Rothe, Vicky
Überlieferungsform:
Ausfertigung
Historische Einordnung:
Während seines Schaffens in Wittenberg führte Martin Luther eine äußerst rege Briefkorrespondenz mit seinem Freund und Berater Georg Spalatin. Man tauschte sich über Drucksachen, neuste Werke und Vorhaben aus, besprach Personalentscheidungen an der Universität sowie in anderen kirchlichen Einrichtungen und hielt sich über das neuste Geschehen aus Stadt, Umgebung und personellem Umfeld auf dem Laufenden. In dem vorliegenden Brief waren drei inhaltliche Aspekte von besonderer Bedeutung:
Zunächst ging Luther auf die Aufregung um seinen Abendmahlssermon, in welchem er über die Buße, Taufe und das Abendmahl gepredigt hatte, ein. Nachdem Luther diesen im Herbst 1519 veröffentlichte, reagierte Herzog Georg von Sachsen empört und formulierte einen Beschwerdebrief an den Kurfürsten Friedrich den Weisen und damit rechtmäßigen Landesherrn Luthers. Dieser sollte ihn gebührend für seine Schrift ermahnen. Zugleich forderte Herzog Georg die Bischöfe von Meißen und Merseburg dazu auf, Maßnahmen gegen jenes Dokument zu ergreifen. In diesem Zusammenhang verbot der Bischof von Meißen, Johann VII. von Schleinitz (um 1470-1537), die Verbreitung des Sermons in seiner Diözese. Da er dies durch seine Offizialbehörde in Stolpen verfügte, sprach man auch vom „Schedula aus Stolpen“ oder vom „Stolpner Zettel“. In dieser aufgeheizten Situation gab Luther in seiner ungestümen Art eine Antwort Mitte Februar in einer Druckschrift heraus und beschwor damit neue Konflikte. Parallel war er aber dazu angehalten, im Dienste des Kurfürstens zu handeln und somit verpflichtet, eine Versöhnungspolitik gegenüber den Bischöfen zu betreiben. Dies erfüllte er mit dem von Johann Schwertfeger in Reinschrift geschriebenen angesprochenen Brief, den er am 20. Februar versandt hatte.
Lorenzo Vallas epochale Arbeit über die so genannte Konstantinische Schenkung schlug bei den Kritikern des Papsttums wie eine Bombe ein, konnte Valla doch quellenkritisch nachweisen, dass das Gründungsdokument des päpstlichen Kirchenstaates in Mittelitalien eine Fälschung war. Für Luther stellte Vallas Schrift einen zentralen Beleg für einen Verdacht dar, der ihn immer mehr beschäftigte: Der erwartete Antichrist auf Erden war in Luthers Augen der Papst höchstpersönlich. Die Vorstellung vom Antichristen beruhte auf den Prophezeiungen im Alten und Neuen Testament, wo der Antichrist als endzeitlicher Gegner Gottes erscheint, der in den letzten Tagen der Menschheit die Christen durch Lügen und falsche Lehren vom rechten Weg abbringe würde. Die Idee der kommenden Apokalypse war fest verankert in der Glaubenswelt des 15. und 16. Jahrhunderts. In schlimmen Katastrophen oder Prophezeiungen beschwor man die schon baldige Ankunft des Antichristen auf der Welt. Neu in Luthers Denken aber war, dass er die allgegenwärtige Vorstellung vom Antichrist nun explizit auf den Papst projizierte. Erstmals kam sein Verdacht, beim Papst handle es sich um den Antichristen, im Zuge der Prozesse gegen ihn 1518 und während der Leipziger Disputation 1519 auf. Er setzte diese Polemik aber zunächst nur im privaten Brief und Gesprächen ein und verstand sie als Warnung an den päpstlichen Stuhl, die angeprangerten kirchlichen Missstände Ernst zu nehmen. 1520 und mit eben diesem Brief setzte eine entscheidendes Umdenken ein: Nun war es für Luther nicht mehr zu leugnen, dass seine Befürchtung tatsächlich zutraf, sprachen doch alle Handlungen, Korruptionen, willkürlichen Gesetze und falsch vermittelten Glaubensauffassungen des Papstes dafür. Von nun an vertrat Luther diese Vorstellung auch öffentlich in seinen Werken und hoffte so, die Gläubigen von der für ihn verdorbenen Papstkirche abzuschrecken zu können und sie stattdessen auf den Weg zum wahren Glauben führen zu können.
Schließlich äußerte er sich über die Studentenunruhen, die im Februar 1520 in Wittenberg die städtische Ordnung nachhaltig zu beschädigen drohten. Die Tumulte liefen vor allem zwischen den Studenten und den hier als „Malern“ bezeichneten Schülern, Gesellen und Arbeitern der Werkstatt von Lucas Cranach d. Ä. ab, wobei der konkrete Anlass der Auseinandersetzung nicht mehr nachvollzogen werden kann. Als Hauptursachen des Konflikts können dabei zum einen die schnelle Ausbreitung der Reformation angesehen werden, deren anfängliche Hauptträger besonders die Studenten der Leucorea waren, die aber eine zunehmende Gewaltbereitschaft signalisierten, zum anderen war 1520 das Jahr mit den höchsten Immatrikulationszahlen an der Universität Wittenberg. Damit befanden sich in einer viel zu kurzen Zeit auf dem wenigen Raum, den die Stadt zu bieten hatte, einfach zu viele Menschen. Dies löste großen Unmut aus und belastete den städtischen Frieden erheblich. Typisch für die Argumentation Luthers war es, dass er die aufkommenden Unruhen als Teufelswerk klassifizierte. Kurfürst Friedrich der Weise reagierte auf die Zusammenstöße mit einem Waffenverbot, das für Studenten und Bürger gleichermaßen galt. Die Verordnung drohte mit Strafzahlungen und verhängte eine Sperrstunde, die jeder einzuhalten hatte. Luther kritisierte dieses Vorgehen, da die kurfürstlichen Befriedungsmaßnahmen eher dazu veranlassten, die Situation weiter anzufachen, anstatt sie im Keim zu ersticken. Und er sollte Recht damit behalten. Der Konflikt weitete sich auf einen größeren Bürgerkreis aus und erreichte im Sommer 1520 seinen Höhepunkt.
Übersetzung:
Martin Luther refers to the Pope as the Antichrist and tells Georg Spalatin of the student unrest in Wittenberg, Wittenberg, February 24, 1520

While working in Wittenberg, Martin Luther engaged in very active written correspondence with his friend and adviser Georg Spalatin. They exchanged opinions regarding printed matter, recent works and projects, discussed personnel decisions at the university and in other church institutions, and kept each other up to date on the latest happenings in the city, the surrounding areas, and their personal environments. Three substantive issues were of particular importance in the present letter:
First, Luther addressed the uproar surrounding his Lord’s Supper sermon, in which he had preached about repentance, baptism, and the Lord’s Supper. After Luther published this sermon in the fall of 1519, Duke George of Saxony was outraged and formulated a letter of complaint to the Elector Frederick the Wise, Luther’s rightful sovereign, who he hoped would duly admonish Luther concerning his tract. At the same time, Duke George called upon the bishops of Meissen and Merseburg to take action against said document. In this context, the bishop of Meissen, John VII of Schleinitz (around 1470-1537), forbade the distribution of the sermon in his diocese. As he enforced this through his officialate in Stolpen, it was also called “Stolpen Schedula” or “Stolpen Decree”. Amid this volatile situation, Luther, in his impetuous manner, published a response in mid-February and thus triggered new conflicts. Simultaneously, however, he was encouraged to act in the service of the Elector and thus obliged to pursue a policy of conciliation towards the bishops. This he accomplished through the above letter, which he sent on February 20 and the clean copy of which was written by Johann Schwertfeger.
Lorenzo Valla’s seminal work on the so-called Donation of Constantine made a real impact among the critics of the papacy, since Valla was able to prove through critical analysis of the sources that the founding document of the Papal States in central Italy was a fake. For Luther, Valla’s treatise was a key document substantiating a suspicion that he had found increasingly concerning: In Luther’s eyes, the Pope himself was the Antichrist expected on Earth. The concept of the Antichrist was based on the prophecies in the Old and New Testaments, in which the Antichrist appears as the eschatological enemy of God, who during the last days of humanity would lead Christians astray through lies and false teachings. The idea of the impending apocalypse was firmly rooted in the faith of the 15th and 16th centuries. People invoked the imminent arrival of the Antichrist on Earth in the form of terrible disasters or prophecies. What was new in Luther’s thoughts, however, was that he now explicitly projected the ubiquitous notion of the Antichrist onto the Pope. His suspicion that the Pope might be the Antichrist first arose in the course of the proceedings against him in 1518 and during the Leipzig Disputation in 1519. Initially, he used this polemic only in private letters and conversations and understood it as a warning to the Holy See to take the much deplored ecclesiastical grievances seriously. A crucial process of rethinking his theory began in 1520 with precisely this letter: Now Luther could no longer deny that his fear was indeed a reality, since all actions, corruptions, arbitrary laws, and falsely conveyed beliefs of the Pope were indicative of its truth. From now on, Luther also advocated this idea publicly in his works and hoped to deter believers from what he considered to be the corrupt papal church and to instead lead them to the path of true faith.
Finally, he addressed the student unrests in Wittenberg, which in February 1520 threatened to do permanent damage to law and order in the town of Wittenberg. The riots mainly took place between the students and those students, assistants, and workers belonging to the workshop of Lucas Cranach the Elder, who are referred to here as “painters,” although the exact cause of the dispute can no longer be traced. There were two main reasons for the conflict: first, the rapid spread of the Reformation, whose main initial drivers, the students of the Leucorea, exhibited an increasing propensity towards violence, and secondly, the fact that the year 1520 was the year with the highest number of enrollments at University of Wittenberg. Consequently, too many people crowded into the limited space that the city had to offer within much too short a time. This gave rise to great resentment and put considerable strain on the law and order in the town. It was typical of Luther’s argumentation that he classified the emerging unrest as the devil’s work. Elector Frederick the Wise responded to the clashes with a weapons ban, which applied equally to students and citizens alike. The ordinance threatened offenders with fines and imposed a curfew that everyone was obliged to respect. Luther criticized this approach because he believed the electoral peacemaking attempts were more likely to add fuel to the situation than to nip it in the bud. Indeed, he was to be proven right. The conflict spread to a much larger part of the population and reached its peak in the summer of 1520.
Literatur:
Georg Berbig, Spalatin und sein Verhältnis zu Martin Luther auf Grund ihres Briefwechsels bis zum Jahre 1525. (Quellen und Darstellungen aus der Geschichte des Reformationsjahrhunderts 1) Halle 1906.
Ulrich Bubenheimer, Luthers Stellung zum Aufruhr in Wittenberg 1520-1522 durch die frühreformatorischen Wurzeln des landesherrlichen Kirchenregiments, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte 102, Kanonische Abteilung 71 (1985), 147-214.
Thomas Kaufmann, Der Anfang der Reformation. Studien zur Kontextualität der Theologie, Publizistik und Inszenierung Luthers und der reformatorischen Bewegung. Tübingen 2012.
Ingvild Richardsen-Friedrich, Antichrist-Polemik in der Zeit der Reformation und der Glaubenskämpfe bis Anfang des 17. Jahrhunderts. Argumentation, Form und Funktion. Frankfurt a. M. 2003.
Björn Schmalz, Spalatin (Burckhardt), Georg, in: Sächsische Biografie, hrsg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde e.V., abrufbar unter URL: saebi.isgv.de/biografie-druck/Georg_Spalatin_(1484-1545) [letzter Abruf: 13.10.2014].
Nachweis früherer Editionen:
Johann Aurifaber (Hrsg.), Epistolarum Reverendi Patris Domini D. Martini Lutheri, Tomus primus, Continens scripta viri Dei, ab anno millesimo quingentesimo septimo, usque ad annum vicesimum secundum. (Epsitolarum Martini Lutheri 1) Jena 1556, 247b–249a. [vollständig]
Wilhelm Martin Leberecht de Wette (Hrsg.), Dr. Martin Luthers Briefe, Sendschreiben und Bedenken: vollständig aus den verschiedenen Ausgaben seiner Werke und Briefe, aus andern Büchern und noch unbenutzten Handschriften gesammelt, kritisch und historisch bearbeitet, Bd. 1. Berlin 1825, 419 f. [vollständig]
Ernst Ludwig Enders (Hrsg.), Dr. Martin Luther‘s Briefwechsel, Bd. 2: Briefe vom Jahre April 1519 bis November 1520. Leipzig 1887, 331. [vollständig]
Johann Georg Walch (Hrsg.), Dr. Martin Luthers Sämmtliche Schriften, Bd. 21, Teil 1: Dr. Luthers Briefe nebst den wichtigsten Briefen, die an ihn gerichtet sind, und einigen anderen einschlagenden interessanten Schriftstücken. Briefe vom Jahre 1507 bis 1532 incl., aufs Neue herausgegeben im Auftrag des Ministeriums der deutschen ev. luth. Synode von Missouri, Ohio und anderen Staaten. St. Louis 1903, 233–235. [vollständig, deutsche Übersetzung]
D. Martin Luthers Werke, Kritische Gesamtausgabe, Briefwechsel Bd. 2 (Briefe 1520-1522). Weimar 1931, Nr. 257, 48–51. [vollständig]
Kurt Aland (Hrsg.), Luther deutsch: die Werke Martin Luthers in neuer Auswahl für die Gegenwart, Bd. 10: Die Briefe. Göttingen 1959, Nr. 50, 75. [Auszug, deutsche Übersetzung]
Bemerkung:
Orig.; 1 Blatt, Papier, 21,6 x 33,6 cm, beidseitig beschrieben, Brief; Rückseite: Adresse; ohne Verschlusssiegel des Ausstellers; Eigenhändige Ausfertigung