Martin Luther ermahnt den Kurfürsten Friedrich den Weisen, das Kreuz der Wittenberger Unruhen geduldig zu ertragen und mit Klugheit vorzugehen. Er kündigt ihm seine baldige Rückkehr nach Wittenberg an.

Signatur:
ThHStAW, EGA, Reg. N 140
Seitenangabe:
1r-v
Datierung:
um den 24.2.1522
Orte:
Eisenach
Eisenach
Wittenberg
Wichtige Personen:
Luther, Martin (* 1483 † 1546)
Friedrich <Sachsen, Kurfürst, III.> (* 1463 † 1525)
Karlstadt, Andreas (* 1486 † 1541)
Melanchthon, Philipp (* 1497-02-16 † 1560-04-19)
Didymus, Gabriel (* 1487 † 1558)
Bearbeiter:
Gleiß, Friedhelm
Überlieferungsform:
Ausfertigung
Verweis auf andere Quellen:
vorliegende Akte, Bl. 2r-5v: Instruktion Friedrichs III. an Johann Oswald zu dessen Unterredung mit Luther („Antwort“ auf Luthers Brief) (ediert in: D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe. Briefwechsel. Bd. 2. Weimar 1931, S. 449-453);
ThHStAW, EGA, Reg. Kk 1161, Bl. 1 (zu Friedrichs Sammelleidenschaft für Reliquien) (ebenfalls Schaufensterdokument)
Historische Einordnung:
Nach der Verweigerung des Widerrufes seiner Schriften und Lehren auf dem Reichstag von Worms im April 1521 wurde die Reichsacht über Martin Luther verhängt, die ihn für rechtlos erklärte und seine Auslieferung forderte („Wormser Edikt“). Außerdem wurden der Druck, Verkauf und die Lektüre von Luthers Schriften verboten und die Verfolgung seiner Anhänger angeordnet. Infolgedessen ließ Kurfürst Friedrich der Weise, Luthers Landesherr, ihn zu seinem Schutz auf der Wartburg (bei Eisenach) verstecken.

Während Luthers Abwesenheit brachen in Wittenberg Unruhen aus. Unter dem Einfluss u. a. des Theologieprofessors Andreas Bodenstein (genannt Karlstadt) und des Predigers im Augustinerkloster Gabriel Zwilling wurden grundlegende – oft ungeordnete – Veränderungen im Kirchenwesen durchgeführt. So kam es zur Beseitigung von Bildern und Altären in Kirchen, Klosteraustritten und Verehelichungen von Priestern. Der Gottesdienst wurde von den Priestern teilweise in Laienkleidung und in deutscher Sprache gefeiert und das Abendmahl unter beiderlei Gestalt gereicht. „Stille Messen“, Ohrenbeichte und Fastengebote wurden abgeschafft. Der Rat wollte mit der Wittenberger Reformationsordnung vom Januar 1522 die Reformen in geordnete Bahnen lenken. Die gemäßigte Partei, zu der auch Philipp Melanchthon gehörte, konnte sich aber nicht durchsetzen. Kurfürst Friedrich der Weise sprach sich, auch auf Druck des Reichsregiments, gegen die Neuerungen aus. In dieser schwierigen Situation bat wohl der Wittenberger Rat Luther um seine Rückkehr nach Wittenberg.
Dieser Bitte wollte sich Luther als berufener Prediger an der Wittenberger Stadtkirche nicht widersetzen. Im vorliegenden Brief an Friedrich den Weisen distanzierte er sich von den ungeordneten Reformen. Am Ende des Schreibens deutete er seine baldige Rückkehr nach Wittenberg an. Der Kurfürst sprach sich gegen die Rückkehr aus, weil er Luther auf der Wartburg besser schützen konnte und Luthers Rückkehr ihn in große Schwierigkeiten und Erklärungsnöte brachte. Nach dem Wormser Edikt war er eigentlich zu Luthers Auslieferung verpflichtet. Solange Luther heimlich auf der Wartburg weilte, konnte Friedrich beteuern, seinen Aufenthaltsort nicht zu kennen. Auf dem Rückweg nach Wittenberg schrieb Luther dem Kurfürsten am 5. März einen weiteren Brief, der von großem Sendungsbewusstsein und Vertrauen auf Gottes Schutz zeugt. Er nahm die Verantwortung für seine Rückkehr selbst auf sich.

Vom 9. März – dem Sonntag „Invocavit“ – an hielt Luther eine Woche lang in der Wittenberger Stadtkirche seine „Invocavitpredigten“. Er hielt die durchgeführten Reformen an sich für richtig, missbilligte aber heftig die Art und Weise ihrer Durchführung. Bei den Neuerungen müsse man Rücksicht nehmen auf die „Schwachen im Glauben“ (vgl. 1. Korinther 8,9-12), die in der herkömmlichen Religiosität verhafteten Menschen. Er vertrat die Ansicht, dass man vor grundlegenden – die bisherigen Gottesdienstgebräuche völlig umstürzenden – Veränderungen die Gemeinde durch intensive und geduldige Predigt des Evangeliums auf diese vorbereiten müsse. Wenn die Gemeinde – ausgehend vom rechten Glauben – die Unhaltbarkeit der bisherigen Bräuche und den Zweck der Reformen verstanden hatte, könne und solle man die Neuerungen durchführen. Er sprach sich gegen Gewissenszwang und Gewalt bei den Veränderungen aus.
Luther gelang es, die Ruhe wiederherzustellen. Unter seiner Leitung wurde in den nächsten Jahren der Gottesdienst behutsam reformiert.
Übersetzung:
(Translated by Claudia Jones)
Martin Luther cautions the Elector Frederick the Wise to bear the cross of the Wittenberg riots patiently and to proceed with prudence. He informs the elector of his intention to make a speedy return to Wittenberg, [Wartburg, about February 24, 1522].

After his refusal to revoke his writings and teachings at the Diet of Worms in April 1521, Martin Luther was placed under an imperial ban, which declared him to be an outlaw and demanded his extradition (“Edict of Worms”). Moreover, the printing, sale, and reading of Luther’s writings were banned and the persecution of his followers was ordered. Consequently, Elector Frederick the Wise, Luther’s sovereign, had him hide at the Wartburg (near Eisenach) for his protection.

Unrest broke out in Wittenberg during Luther’s absence. Under the influence of individuals such as the Professor of Theology Andreas Bodenstein (also called Karlstadt) and Gabriel Zwilling, a preacher in the Augustinian monastery, fundamental – often disorderly – changes were made to the church. These led to the removal of images and altars in churches, the leaving of monasteries, and marriages of priests. Services were partly held in German by priests in lay clothes and Communion was passed out in both forms. “Silent Masses,” auricular confession and fasting were abolished. The council wanted to regulate the reforms on the basis of the Wittenberg Reformation Ordinance from January 1522. However, the moderate party, including Philipp Melanchthon, did not prevail. Elector Frederick the Wise spoke out against the reforms, also under pressure from the imperial government (“Reichsregiment”). In this difficult situation, the Wittenberg Council must have asked Luther to return to Wittenberg.
As an appointed preacher at Wittenberg’s City Church, Luther did not want to oppose this request. In the present letter to Frederick the Wise, he distanced himself from the disordered reforms. At the end of the letter he indicates that he will make a speedy return to Wittenberg. The Elector spoke out against the return because he was better able to protect Luther at the Wartburg and Luther’s return caused him great difficulties, since he was hard pressed to explain matters. According to the Edict of Worms he was obliged to deliver Luther to the authorities. As long as Luther secretly remained at the Wartburg, Frederick could profess not to know his whereabouts. On his way back to Wittenberg, Luther wrote another letter to the Elector on March 5, which is evidence of a great sense of mission and trust in God’s protection. He assumed full responsibility for his return.

Starting March 9 – “Invocavit” Sunday (the first Sunday of Lent) – Luther gave his “Invocavit sermons” for one week in Wittenberg’s City Church. He considered the reforms undertaken to be correct but vehemently disapproved of the manner of their implementation. He believed the changes should focus on the “weak in faith” (cf. 1 Corinthians 8:9-12), those people attached to conventional religiousness. He was of the opinion that the congregation had to be prepared through intense and patient preaching of the Gospel before making fundamental changes that completely overturned the former rites of worship. Once the congregation – based on the right faith – understood the untenability of previous customs and the purpose of the reforms, the changes could and should be implemented. He spoke out against coercion of conscience and violence in the changes.
Luther was able to restore peace. Under his leadership, worship was carefully reformed over the next few years.
Literatur:
Martin Brecht, Martin Luther. Bd. 2: Ordnung und Abgrenzung der Reformation 1521-1532. Stuttgart 1994.
English translation: Martin Brecht, Martin Luther. Vol. 2: Shaping and defining the Reformation. 1521-1532. Translated by James L. Schaaf. Minneapolis 1990.
Natalie Krentz, Auf den Spuren der Erinnerung. Wie die „Wittenberger Bewegung“ zu einem Ereignis wurde, in: Zeitschrift für historische Forschung 36 (2009) 4, S. 563-595.
Volker Leppin, Martin Luther. 2., durchges., bibliogr. aktualisierte und mit einem neuen Vorw. vers. Aufl. Darmstadt 2010.
Rudolf Mau, Evangelische Bewegung und frühe Reformation 1521 bis 1532. (Kirchengeschichte in Einzeldarstellungen 2/5.) Leipzig 2000.
Reinhard Schwarz, Luther. 3., durchges. u. korr. Aufl. Göttingen 2004.
Nachweis früherer Editionen:
Luthers Werke in Auswahl. Bd. 6: Luthers Briefe. Hrsg. v. Hanns Rückert. 2., verb. Aufl. Berlin 1955, Nr. 53, S. 101f.
Reiner Groß/Manfred Kobuch/Ernst Müller (Red.), Martin Luther 1483-1546. Dokumente seines Lebens und Wirkens. Dokumente aus staatlichen Archiven und anderen wissenschaftlichen und kulturellen Einrichtungen der Deutschen Demokratischen Republik. Im Jahre des 500. Geburtstages Martin Luthers mit Unterstützung des Martin-Luther-Komitees hrsg. v. der Staatlichen Archivverwaltung der DDR. Weimar 1983, Nr. 67, S. 107, 344.
D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe. Briefwechsel. Bd. 2. Weimar 1931, Nr. 454, S. 448f.
Dr. Martin Luthers Briefe, Sendschreiben und Bedenken, vollständig aus den verschiedenen Ausgaben seiner Werke und Briefe, aus andern Büchern und noch unbenutzten Handschriften gesammelt, kritisch und historisch bearb. v. Wilhelm Martin Leberecht de Wette. 2. Theil: Luthers Briefe von seinem Aufenthalt auf Wartburg bis zu seiner Verheurathung. Berlin 1826, Nr. 361, S. 136f.
Bemerkung:
Autograph Luthers; Ausstellungsort erschlossen: Wartburg (bei Eisenach)