Thomas Müntzer teilt dem Rat und Schosser zu Allstedt mit, dass er die Stadt verlassen hat.

Signatur:
LASA, H 1, Handschriftensammlung Nr. 148/1
Seitenangabe:
1r-v
Datierung:
7. August 1524
Orte:
Allstedt
Allstedt
Wichtige Personen:
Müntzer, Thomas (* 1489 † 1525)
Bearbeiter:
Rothe, Vicky
Überlieferungsform:
Ausfertigung
Historische Einordnung:
Mit der Flucht Thomas Müntzers in der Nacht vom 7. auf den 8. August 1524 aus Allstedt war ein entscheidender Wendepunkt in seinem Leben vollzogen und die Weichen für den bevorstehenden Bauernkrieg gestellt: Nun entschied sich Müntzer für einen offenen Bruch mit dem sächsischen Kurfürstenhaus, der Wittenberger Reformation und schlug selbst einen radikalen, sozialrevolutionären Weg der Reformation in seinem Denken ein.
Wer aber war Müntzer und was hatte ihn zur Flucht bewegt?
Der um 1490 in Stolberg im Harz geborene Thomas Müntzer durchlief zunächst die klassische Laufbahn eines Theologen: Nach seiner Ausbildung an den Universitäten in Leipzig sowie in Frankfurt an der Oder erhielt er die Priesterweihe in der Diözese Halberstadt. Frühzeitig kam er mit dem reformatorischen Gedankengut in Kontakt. Während seiner Predigertätigkeit, u. a. in Zwickau und Prag, kristallisierte sich immer mehr heraus, dass er ein radikales Reformationsverständnis besaß und sich zunehmend von den Lehren Luthers abzugrenzen begann. Spätestens mit der Predigerstelle an der Johanneskirche in der Stadt Allstedt, die er Ostern 1523 antrat, begann er mit seinen Lehren, die Glaubensanhänger zu polarisieren. Sein Gottesdienst fand nicht zuletzt durch seine intensive Predigertätigkeit und durch den Verzicht auf lateinische Texte – er hielt seine Predigten ausschließlich in deutscher Sprache – großen Zuspruch. Diese lokale Ausweitung der reformatorischen Bewegung war insofern bereits zu Beginn mit Konflikten aufgeladen, als dass sich Allstedt als kursächsische Exklave im unmittelbaren Einflussgebiet des altgläubigen Herzogtums Sachsens und des Grafen Ernst von Mansfeld befand.
Was aber war überhaupt revolutionär und radikal in Müntzers theologischem Ansatz? Bereits die ersten Worte seines Briefes an den Allstedter Rat zeigen die Sprengkraft seines Denkens auf: „Der Friede, dem die Welt Feind ist, sei mit Euch“ als Abwandlung der christlichen Grußformel „Der Friede [Gottes] sei mit Euch“ ist keineswegs als Geste der Versöhnung oder Ausdruck von Nächstenliebe zu verstehen. Es handelt sich hierbei vielmehr um einen energischen Aufruf zur religiösen Revolte, der eindringlicher nicht sein könnte. Um zum reinen Glauben zu gelangen, musste die Welt, wie sie sich dem Menschen darbot, überwunden und wieder in ihren Ursprungszustand versetzt werden. Dazu bedurfte es eines revolutionären Umsturzes der bestehenden und bisher akzeptierten, (katholischen) Herrschafts- und Gesellschaftsordnung, sowie der Beseitigung der sozialen Gegensätze hin zu einer (evangelischen) gesellschaftlichen Erneuerung. Müntzer war davon überzeugt, dass diese Veränderungen unmittelbar bevorstanden und er selbst sah sich als „Knecht Gottes“.
Diese Radikalisierung Müntzers drückte sich besonders in seinem Handeln während seiner Zeit in Allstedt aus. In seiner am 13. Juli 1524 gehaltenen sogenannten „Fürstenpredigt“ prangerte er offen die Willkür der Obrigkeit sowie die sozialen Missstände an und rief zur Umsetzung der Reformation (in seinem Sinne) auf. Daraufhin wurde Müntzer am 1. August 1524 zum Verhör nach Weimar geladen und mit dem Vorwurf konfrontiert, die Untertanen zum Aufruhr und Ungehorsam anzustiften. Der Verdacht, er würde seinen Worten nun auch Taten folgen lassen, lag im Raum und wurde auf der obersten landesherrlichen Ebene als zunehmende Bedrohung wahrgenommen. Infolgedessen distanzierte sich der Allstedter Rat von Müntzer und hatte nun die Aufgabe erhalten, in der Stadt die notwendigen polizeilichen Maßnahmen für die Wiederherstellung von Ruhe und Ordnung durchzuführen. Sie veranlassten, dass Müntzer sich zurückhalten und seinem „Allstedter Bund“ (Verbund der Anhänger Müntzers) abschwören musste. Dies beinhaltete auch, dass, bevor nicht ein endgültiges Urteil des Landesherrn gefällt war, er die Stadt nicht verlassen sollte. Eine neue Predigt Müntzers war zwar nicht vom Rat ausgeschlossen worden, zugleich hatte er aber das Verbot erhalten, revolutionären Inhalt oder jeglichen Zusammenschluss zu predigen. Diese Situation nahm Müntzer mit großer Enttäuschung wahr und interpretierte die fehlende Fürsprache des Allstedter Stadtrates vor dem Kurfürsten in Weimar als Verrat.
In dieser aufgeheizten Stimmung verließ Müntzer entgegen seinem vorherigen Versprechen und noch vor einer endgültigen kurfürstlichen Entscheidung sein bisheriges Wirkungsfeld Allstedt. Um sich gegen den Vorwurf zu wehren, er habe seiner Gemeinde seine Absichten des Weggangs nicht zuvor erklärt, bittet er in seinem Brief seine Anhänger – mit einem leichten bitteren Unterton – seinen Fortgang nicht falsch zu interpretieren. Er schärft dem Rat noch einmal ein, seinen eingeschlagenen Glaubenskurs fortzuführen, um einer Erleuchtung und der neuen Weltordnung nicht im Wege zu stehen.
In Mühlhausen, wohin ihn seine Flucht führte, fielen seine Ideen auf fruchtbaren Boden. Hier existierte ein großes Verlangen nach reformatorischen Neuerungen, die in die Bauernaufstände von Mühlhausen, der Schlacht von Frankenhausen 1525 und schlussendlich der Hinrichtung Müntzers am 27. Mai 1525 münden sollten.
Übersetzung:
The escape of Thomas Müntzer from Allstedt on the night of August 7 to August 8, 1524 marked a crucial turning point in his life and set the course for the impending Peasants' War. Müntzer opted for an open break with the Saxon Elector's house and the Wittenberg Reformation, and himself embarked on a radical sociorevolutionary journey of reformation in his thinking.
But who was Müntzer and what moved him to flee?
Born around 1490 in Stolberg in the Harz region of Saxony-Anhalt, Thomas Müntzer initially followed the traditional career of a theologian: After completing his education at the universities of Leipzig and Frankfurt/Oder, he was ordained in the Diocese of Halberstadt. He came into contact with the ideology of the Reformation at an early stage. During his work as a preacher in Zwickau and Prague among other towns and cities, it became increasingly clear that he had a radical understanding of the Reformation and that he was beginning to distance himself progressively from Luther's teachings. By the time he accepted the position of preacher at the Johanneskirche in the city of Allstedt on Easter 1523 (if not before), his teachings had already begun to polarize his religious followers. His service was very popular, not least because of the intensity of his preaching and the fact that he dispensed with Latin texts, delivering his sermons exclusively in German. This local extension of the Reformation movement was thus charged with conflict from the very outset, because Allstedt, as an exclave of the Electorate of Saxony was located in the immediate area of influence of the orthodox Duchy of Saxony and Count Ernst von Mansfeld.
But what exactly was revolutionary and radical about Müntzer's theological approach? The very first words of his letter to the Allstedt Council show the explosive power of his thinking: "Peace, whose enemy is the world, be with you" as a variant of the Christian salutation "[The] Peace [of God] be with you" should in no way be understood as a gesture of reconciliation or an expression of brotherly love. Rather, it is a forceful call for religious revolt that could not be any more insistent. To achieve pure faith, the world, as it presented itself to the people, had to be overcome and be restored to its original state. This required a revolutionary overthrow of the existing and previously accepted (orthodox) system of rule and society, as well as the elimination of social discrepancies in favor of a social renewal, based on the new doctrine. Müntzer was convinced that these changes were imminent and perceived himself as a "servant of God."
Müntzer's radicalization found expression in his actions during his time in Allstedt in particular. In his "Sermon to the Princes" delivered on July 13, 1524, he openly denounced the arbitrariness of the authorities as well as the social ills that prevailed and called for implementation of the Reformation as he interpreted it. As a result, Müntzer was summoned to Weimar for questioning on August 1, 1524 and accused of inciting the people to rebellion and disobedience. The suspicion that he would now practice what he preached was prevalent and he was increasingly being perceived as a threat at the highest sovereign level. Consequently, the Allstedt council had distanced itself from Müntzer and had been tasked with implementing the necessary police measures to restore peace and order in the city. The council prompted Müntzer to restrain himself and to renounce his "Allstedt Covenant" (an alliance of Müntzer's followers). In addition, he was not supposed to leave the city before the sovereign made his final judgment. While the delivery of a new sermon by Müntzer had not been prohibited by the council, he was forbidden to preach revolutionary content or encourage any form of fraternization. Müntzer was bitterly disappointed at the situation he found himself in and interpreted the failure of the Allstedt council to advocate for him before the Elector in Weimar as a betrayal.
Amid this volatile situation, Müntzer left his previous sphere of influence, Allstedt, contrary to his promise and prior to a final electoral decision. To defend himself against the accusation that he had not declared his intention to depart in advance, he asks his followers in his letter - with a slightly bitter undertone - not to misinterpret his leaving. He again urges the council to continue its chosen course of faith, so as to not stand in the way of enlightenment and the new world order.
His ideas fell on fertile ground in Mühlhausen, where his flight led him. Here, there was a great desire for reformatory changes, which would eventually spark the peasant uprisings of Mühlhausen and the Battle of Frankenhausen in 1525, and would ultimately lead to Müntzer's execution on May 27, 1525.
Literatur:
Hans-Jürgen Goertz, Thomas Müntzer. Revolutionär aus dem Geist der Mystik, in: Ders. (Hrsg.), Radikale Reformatoren. 21 biografische Skizzen von Thomas Müntzer bis Paracelsus. München 1978, 30–43.
Carl Hinrichs, Luther und Müntzer. Ihre Auseinandersetzung über Obrigkeit und Widerstandsrecht. 2. unver. Aufl. Berlin 1971, 126–133.
Manfred Kobuch, Thomas Müntzers Weggang aus Allstedt. Zum Datierungsproblem eines Müntzerbriefes, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 8 (1960), 1632–1636.
Walter Elliger, Thomas Müntzer. Leben und Werk. 2. Aufl. Göttingen 1975.
Günter Vogler, Thomas Müntzer und die Gesellschaft seiner Zeit. Mühlhausen 2003.
Günter Vogler, Thomas Müntzer. „Ein williger Botenläufer Gottes.“ Ein biografisches Essay, in: Marion Dammaschke/Günter Vogler, Thomas Müntzer Bibliographie (1519–2012). Baden-Baden 2013, 15–28.
Nachweis früherer Editionen:
Almanach für Prediger, die lesen, forschen und denken. Auf das Jahr 1789, hrsg. von Georg Adam Horrer. Weißenfels/Leipzig 1789, 225 f. [fehlerhaft]
Gustav Poppe, Aus der Zeit des Bauernkrieges, in: Zeitschrift des Harzvereins für Geschichte und Altertumskunde 27 (1894), 310 f. [fehlerhaft]
Thomas Müntzer Briefwechsel. Auf Grund der Handschriften hrsg. von Heinrich Böhmer und Paul Kirn. Berlin/Leipzig 1931, Nr. 65, 86 f.
Manfred Kobuch, Thomas Müntzers Weggang aus Allstedt. Zum Datierungsproblem eines Müntzerbriefes, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 8 (1960), 1636.
Manfred Bensing, Thomas Müntzer. Leipzig 1965, 63.
Thomas Müntzer. Schriften und Briefe. Kritische Gesamtausgabe, hrsg. von Günther Franz. Gütersloh 1968, 432.
Manfred Bensing, Thomas Müntzer. 2., überarb. Aufl. Leipzig 1975, 67.
Manfred Bensing, Thomas Müntzer. 3. neu bearb. Aufl. Leipzig 1983, 64.
Manfred Bensing, Thomas Müntzer. 4., überarb. Aufl. Leipzig 1989, 64.
Thomas Müntzer. Briefwechsel, bearb. von Siegfried Bräuer und Manfred Kobuch. (Thomas Müntzer-Ausgabe. Kritische Gesamtausgabe Bd. 2/Quellen und Forschungen zur sächsischen Geschichte Bd. 25/II) Leipzig 2010, 340 f.
Bemerkung:
einseitig beschrieben, Rückseite: Adresse; Brief; Verschluss-Siegel des Ausstellers; Eigenhändige Ausfertigung