Thomas Müntzer an Hans Zeiß. Aufforderung an die Ernestiner, einen „Bund göttlichen Willens“ mit dem Volk zu schließen.

Signatur:
ThHStAW, EGA, Reg. N 837
Seitenangabe:
4r-5v
Datierung:
25. Juli 1524
Orte:
Allstedt
Allstedt
Wichtige Personen:
Müntzer, Thomas (* 1489 † 1525)
Zeiß, Hans
Bearbeiter:
Scherer, Annette
Überlieferungsform:
Ausfertigung
Historische Einordnung:
Als der Theologe und Reformator Thomas Müntzer im Frühjahr 1523 die Pfarrstelle an der Johanniskirche in der Stadt Allstedt übernahm, hatte es andernorts bereits Auseinandersetzungen um sein Glaubensverständnis gegeben. So war er im April 1521 durch den Rat der Stadt Zwickau seiner Predigerstelle, die er dort zeitweilig in Vertretung innegehabt hatte, enthoben worden. Der Rat wollte durch diesen Schritt weitere Spannungen in der Stadt vermeiden, nachdem es zuvor zu Streitigkeiten zwischen Müntzer und den Anhängern Martin Luthers gekommen war. Müntzer hatte Luthers Lehren anfangs zwar nahegestanden, grenzte sich durch seine Theologie aber immer weiter von diesen ab. So wandte er sich unter anderem gegen die Vorstellung Luthers, dass der Einzelne nur durch das Wort, d. h. die Bibel oder die Predigt, zum Glauben gelangen könne. Er ging stattdessen von einer Aneignung des Glaubens durch das Nacherleben der Leiden Christi aus. Der wahre auserwählte Christ sei durch diese Leidenserfahrung in der Lage, Gottes Stimme selbst unvermittelt wahrnehmen zu können und so zum Glauben zu gelangen. Abweichend von Luther entwickelte Müntzer zudem ein gewisses Sendungs- und Endzeitbewusstsein und ging davon aus, dass ein irdisches Reich Gottes, eine Trennung zwischen „Auserwählten“ und „Gottlosen“, nahe sei. Nachdem es also bereits gegen Ende des Aufenthalts Müntzers in Zwickau zu einer ersten Entfremdung zwischen Müntzer und Luther gekommen war, betrachtete Luther Müntzers Aktivitäten in Allstedt von Beginn an kritisch. Mitte Juli 1524, kurz bevor Müntzer den hier zugänglich gemachten Brief schrieb, warnte er schließlich sogar die kursächsischen Fürsten vor Müntzers „aufrührerischen“ Ideen.
In Allstedt stieß Müntzer jedoch schnell auf großen Rückhalt: So konnte er sowohl den landesherrlichen Beamten Hans Zeiß, der das zum Kurfürstentum Sachsen gehörende Amt Allstedt verwaltete, als auch den Stadtrat für seine Glaubensvorstellungen gewinnen. Dies eröffnete ihm die Möglichkeit, in Allstedt in Ruhe an seinen theologischen Schriften zu arbeiten und einige gottesdienstliche Neuerungen durchzusetzen. So hielt er beispielsweise die Gottesdienste fortan nur noch in deutscher statt in lateinischer Sprache ab und führte den Gemeindegesang ein.
Schon wenige Monate nach Müntzers Amtsantritt kam es jedoch auch in Allstedt zu ersten Auseinandersetzungen um Müntzers Person. Müntzers Allstedter Predigten waren gut besucht und zogen auch Menschen aus den altgläubigen Herrschaftsgebieten, von denen das Amt Allstedt umgeben war, an. Darüber empörte sich der altgläubige Graf Ernst von Mansfeld, der nicht wollte, dass seine Untertanen an den Allstedter Gottesdiensten teilnahmen und der sich schließlich mit seinen Beschwerden auch an den kursächsischen Hof wandte. Müntzers Verhältnis zu den kursächsischen Fürsten schadete dies vorerst nicht. Dieses wurde aber nachhaltig gestört, als seine Anhänger – Müntzer selbst hatte sich im Vorfeld kritisch über das Kloster- und Wallfahrtswesen geäußert – Ende März 1524 einen Brandanschlag auf die zum Nonnenkloster Naundorf gehörende Mallerbacher Kapelle verübten. Der Amtmann und der Stadtrat schritten in dieser Angelegenheit zuerst nur zögerlich ein, mussten aber auf Druck der Landesherren schließlich doch gegen die Beteiligten vorgehen. Die in Allstedt sowieso schon herrschende Unruhe verstärkte sich dadurch noch. Gleichzeitig spitzten sich die Streitigkeiten mit den benachbarten Herrschaftsgebieten wegen des großen Zulaufs zu den Allstedter Gottesdiensten zu. Berichte über Strafmaßnahmen gegen und tätliche Übergriffe auf Gottesdienstbesucher aus den altgläubigen Gebieten wurden bekannt.
Müntzer gründete vermutlich bereits Ende März 1524 den Allstedter Bund, der als ein Verteidigungsbündnis zum Schutz des Evangeliums gedacht war. Dieser bestand anfangs nur aus etwa 30 Personen, fand aber wahrscheinlich seit Anfang Juni, als die Konflikte sich verschärften, weitere Anhänger. Als immer mehr Glaubensflüchtlinge aus den benachbarten Gebieten in Allstedt eintrafen, hielt Müntzer am 24. Juli 1524 vor der Allstedter Gemeinde die sogenannte Bundespredigt. Ausgehend von einem Text aus den Büchern der Könige (2. Könige 22-23), in welchem es um die Erneuerung des Bundes mit Gott durch König Josia geht, rief er in dieser Predigt zum Zusammenschluss aller wahren Gläubigen auf. Über diese Predigt informiert Müntzer den Amtmann Hans Zeiß im hier zugänglich gemachten Brief vom 25. Juli 1524. Gleichzeitig fordert er in diesem die ernestinischen Landesherren auf, ihre zurückhaltende Verhaltensweise den altgläubigen Herrschern gegenüber aufzugeben, stattdessen die verfolgten Gläubigen zu schützen und einen „Bund göttlichen Willens“ als ein Verteidigungsbündnis gegen die „Gottlosen“ mit dem Volk zu schließen. Offenbar ging Müntzer davon aus, Zeiß würde sein Schreiben an den kursächsischen Hof weiterleiten.
Nachdem sich die Lage in Allstedt dermaßen verschärft hatte, musste sich Müntzer Anfang August schließlich einem Verhör am Weimarer Hof stellen. Dessen Ergebnis war, dass den Allstedtern aufgetragen wurde, den Allstedter Bund aufzulösen. Müntzer wurden weitere „aufrührerische“ Predigten untersagt und die Druckerei, in der er einige seine Schriften hatte verlegen lassen, wurde geschlossen. Müntzer verließ daraufhin in der Nacht vom 7. auf den 8. August heimlich die Stadt und flüchtete nach Mühlhausen.
Literatur:
Siegfried Bräuer, Thomas Müntzer und der Allstedter Bund, in: Ders., Spottgedichte, Träume und Polemik in den frühen Jahren der Reformation. Abhandlungen und Aufsätze. Herausgegeben von Hans-Jürgen Goertz/Eike Wolgast. Leipzig 2000, S. 91-121.
Siegfried Bräuer, Thomas Müntzer und die Zensur, in: Günter Mühlpfordt/Ulman Weiß (Hrsg.), Kryptoradikalität in der Frühneuzeit. Stuttgart 2009, S. 39-65, hier S. 51.
Walter Elliger, Thomas Müntzer. Leben und Werk. Göttingen 1975, S. 487-494.
Wieland Held, Der Allstedter Schosser Hans Zeiß und sein Verhältnis zu Thomas Müntzer, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 35, 1987, S. 1073-1091.
Günter Vogler, Thomas Müntzers Verhältnis zu den fürstlichen Obrigkeiten in seiner Allstedter Zeit, in: Jahrbuch für Geschichte des Feudalismus 13, 1989, S. 67-88, hier S. 81-82.
Modernisierte Übertragungen:
Thomas Müntzer, Schriften, liturgische Texte, Briefe. Ausgewählt und in neuhochdeutscher Übertragung herausgegeben von Rudolf Bentzinger und Siegfried Hoyer. Berlin 1990, S. 199-202.
Thomas Müntzer, Sein Leben und seine Schriften. Herausgegeben von Otto H[ermann] Brandt. Jena 1933, S. 68-70.
Nachweis früherer Editionen:
[Carl Eduard] Förstemann [Hrsg.], Zur Geschichte des Bauernkrieges im Thüringischen und Mansfeldischen, in: Neue Mitteilungen aus dem Gebiet historisch-antiquarischer Forschungen 12, 1868, Nr. 22, S. 150-244, hier S. 176-179.
Heinrich Böhmer/Paul Kirn (Hrsg.), Thomas Müntzers Briefwechsel auf Grund der Handschriften und ältesten Vorlagen. Leipzig/Berlin 1931, Nr. 59, S. 74-77.
Siegfried Bräuer/Manfred Kobuch (Bearb.), Thomas Müntzer Briefwechsel. (Thomas-Müntzer-Ausgabe. Kritische Gesamtausgabe, Bd. 2.) Leipzig 2010, Nr. 93, S. 316-322.
Thomas Müntzer, Politische Schriften, Manifeste, Briefe 1524/25. Eingeleitet, kommentiert und herausgegeben von Manfred Bensing/Bernd Rüdiger. Leipzig 1970, S. 250-253.
Thomas Müntzer, Schriften und Briefe. Kritische Gesamtausgabe. (Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte, Bd. 33.) Herausgegeben von Günther Franz. Gütersloh 1968, Nr. 59, S. 421-423.